Gastautor*: Romain Lanners, Leiter der Fachagentur Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik SZH
Ist das Glas der inklusiven Bildung halb leer oder halb voll? Wo steht die Schweiz heute? Romain Lanners beantwortet diese Fragen.
In der dreiteiligen Serie gehe ich auf das Staatenberichtsverfahren (Teil 1), auf die Empfehlungen des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK-Ausschuss; Teil 2) und auf die nächsten Schritte (Teil 3) ein. Im ersten Teil diskutieren wir den Prozess zwischen dem Beitritt der Schweiz zur Konvention im Mai 2014 und der Vorstellung des ersten Schweizer Staatenberichts vor dem UNO-BRK-Ausschuss Mitte März 2022.
Beitritt und erste Berichterstattung
Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der UNO (UNO-BRK), das die UNO-Generalversammlung 2006 in New York verabschiedete, ist im Mai 2014 bei uns in Kraft getreten. Der Beitritt der Schweiz zur Konvention zeigt ein starkes und klares Commitment zugunsten der Gleichstellung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Das Fakultativprotokoll, welches individuelle Beschwerden vorsieht, hat die Schweiz nicht unterzeichnet.
Der Artikel 24 der UNO-BRK betrifft spezifisch den Bereich der Bildung. In der deutschen Übersetzung wird ein integratives Bildungssystem gefordert, in dem Lernende nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden. Interessant ist zu erwähnen, dass in der englischen Originalfassung der Begriff inclusive education system verwendet wird. Dieser «Übersetzungsfehler» aus dem Englischen geht auf die Salamanca-Erklärung der Unesco von 1994 zurück: der englische Begriff inclusive wurde damals mit integrativ übersetzt.
Zu den Verpflichtungen der Vertragsstaaten gehört es, dem Ausschuss regelmässig Bericht über die Umsetzung der UNO-BRK zu erstatten. Diese Berichterstattung beinhaltet den Blick des Staats (Staatenbericht) und jenen der Zivilgesellschaft (Schattenbericht). Es liegt auf der Hand, dass beide Sichtweisen nicht deckungsgleich sind.
Initialstaatenbericht: Das Glas ist bereits halb voll
Der erste Bericht der Schweiz zur UNO-BRK, der Initialstaatenbericht, wurde 2016 eingereicht. Er informiert über die getroffenen Umsetzungsmassnahmen, die bereits erzielten Fortschritte und über den Handlungsbedarf.
Die Koordination des Staatenberichtsverfahren obliegt dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB. Beim Initialstaatenbericht wurden alle betroffenen Akteure des Bundes (unterschiedliche Bundesämter) und die interkantonalen Konferenzen (hauptsächlich SODK und EDK) einbezogen. Das SZH hat die EDK beim Bericht und bei den nachfolgenden Arbeiten zum Bildungsartikel unterstützt.
Der Initialstaatenbericht beschreibt anhand von Fakten den Stand der Umsetzungsarbeiten knapp zwei Jahre nach Inkrafttreten der Konvention. Logischerweise hebt der Initialbericht das Erreichte hervor und spart mit Selbstkritik. Aus diesem Grunde gibt es den alternativen Bericht.
Schattenbericht: Das Glas ist noch immer halb leer
Die Zivilgesellschaft sieht die Fortschritte bei der Umsetzung der UNO-BRK naturgemäss weitaus kritischer als der Bund oder die Kantone. Der Schattenbericht wurde unter der Federführung vom Dachverband Inclusion Handicap verfasst und dies in enger Zusammenarbeit mit den 25 Mitgliederorganisationen, seien es Eltern- oder Selbstbetroffenenvereinigungen. Der alternative Bericht enthält eine kritische Analyse des Initialstaatenberichts und baut hauptsächlich auf Gerichtsurteilen und auf Einzelfallanalysen auf. Der Schattenbericht wurde 2017 beim UNO-BRK-Ausschuss eingereicht. Inclusion Handicap hat im März 2022 einen zusätzlichen Schattenbericht veröffentlicht.
Der Initialstaatenbericht und der Schattenbericht sind komplementär. Beide liefern die Grundlage für die sogenannten List of Issues (LoI), welche der UNO-BRK-Ausschuss 2019 publiziert hat. Dieser Fragenkatalog dient der Vorbereitung der offiziellen Vorstellung des Staatenbericht und des Dialogs mit dem UNO-BRK-Ausschuss. Bund und Kantone haben 2021 die Antworten auf die LoI eingereicht. Und der Ausschuss hat zusätzlich eine Anhörung mit der Zivilgesellschaft durchgeführt.
Dialog und «Concluding Observations»
Als Abschluss des Überprüfungszyklus stellte die Schweiz den Initialbericht am 14., 15. und 16. März 2022 dem UNO-BRK-Ausschuss vor. Der Dialog mit dem Ausschuss fand leider hybrid statt: Nur eine Handvoll Vertreter konnte vor Ort in Genf teilnehmen, während der grosse Teil der Delegation in Bern via Zoom zugeschaltet war. Die Schweiz konnte auf die verschiedenen Fragen des Ausschusses antworten. Wegen der hybriden Durchführung kam jedoch kein richtiger Dialog zustande, was im Nachhinein sehr schade ist.
Im Anschluss an den Dialog hat der Ausschuss seine Schlussbemerkungen zur Umsetzung der UNO-BRK in der Schweiz erstellt. Diese «Concluding Observations» mit den Empfehlungen des Ausschusses wurden bereits Mitte April auf Englisch und Französisch veröffentlicht. Sie werden jetzt noch vom EBGB auf Deutsch übersetzt.
Fazit: Das Glas ist nun….
Wie bereits aus der Antwort auf die LoI und der aktuellen Bildungsstatistik hervorgeht, sind knapp 50 % der Schülerinnen und Schüler mit einem nachgewiesenem besonderem Bildungsbedarf in eine Regelklasse integriert. Ob das Glas nun halb voll oder halb leer ist, hängt dann vom Standpunkt ab. In den Augen des UNO-BRK-Ausschusses besuchen noch zu viele Schülerinnen und Schüler eine Sonderschule.
Im zweiten Teil schauen wir uns die Empfehlungen des UNO-BRK-Ausschusses genauer an: welche Massnahmen sollten aus Sicht der UNO umgesetzt werden, um die inklusive Bildung in der Schweiz zu fördern?
*Die Meinungen von Gastautoren repräsentieren nicht zwingend die Haltung der EDK.