Dieser Artikel ist Teil des EDK-Newsletters vom 27. Oktober 2021
Was wissen wir über die Digitalisierung im Bildungsraum Schweiz? Wie wirkungsvoll ist das Lernen mit digitalen Instrumenten? Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf das Bildungswesen?
Im Auftrag der EDK und des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation SBFI ist die Fachagentur Educa diesen und weiteren Fragen nachgegangen. Im Interview beantwortet Hauptautor Benjamin Volland Fragen zur Digitalisierung in der Bildung
Wie sieht aus Ihrer persönlichen Sicht ein gelungener Unterrichtstag aus, bei dem digitaler und analoger Unterricht in Einklang gebracht werden?
Das ist eine spannende Frage. Aber eine, die eher ein erfahrener Pädagoge oder ein Didaktiker beantworten könnte. Ich interpretiere sie jetzt mal so, dass es darum geht, was wir über die Effekte des Zusammenspiels von analogen und digital gestützten Unterrichtseinheiten auf den Lernerfolg oder die Lernmotivation wissen. Empirisch ist das eine grosse Herausforderung. Schon allein darum, weil es sehr schwer ist, die Aufteilung von Unterrichtszeit zwischen den beiden Modi zu messen. Und da ignorieren wir Fragen der Qualität oder unterschiedlicher pädagogischer Konzepte innerhalb der jeweiligen Modi noch komplett. Entsprechend gibt es bislang keine Studien, die sich mit solchen Fragen der Zeitallokationseffekte zwischen den beiden Unterrichtsmodi auseinandersetzen. Kurz: Wir können davon ausgehen, dass es da ein Zusammenspiel gibt. Aber wie dieses Zusammenspiel konkret aussieht und welche Auswirkungen es hat, dazu fehlen leider bis heute robuste wissenschaftliche Erkenntnisse.
Persönlich finde ich, dass es eine Reihe von Angeboten gibt, deren Integration in den Unterricht mir als Schüler wahrscheinlich sehr gut gefallen hätte. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Eine Partneragentur aus dem europäischen Ausland hat ein Lernspiel für Mathematik entwickelt, das einfach und unglaublich fesselnd war. Ziel des Spiels war es, vor einem Monster wegzulaufen. Und für jeden Schritt musste man eine Additions- oder Multiplikationsaufgabe mit steigender Schwierigkeit lösen. Man konnte zwar nicht gewinnen, aber es gab natürlich einen Score für die Distanz, die man vor dem Monster fliehen konnte. Ich war mit grösstem Eifer beim Kopfrechnen mit dabei. Es ist immer wieder interessant zu sehen, wie solche einfachen Spiele das Einüben von Regeln der Arithmetik aufregender gestalten können.
In welche Richtung entwickelt sich die Digitalisierung des Bildungswesens in der Schweiz derzeit, welche dominierenden Strömungen können beobachtet werden?
Es gibt leider nur wenige Datensätze, die eine konsistente Beobachtung der Digitalisierung im Bildungswesen der Schweiz über die Zeit hinweg erlauben. Das macht es schwer, belastbare Aussagen über die Entwicklung der Digitalisierung zu machen.
Wir beobachten, dass sowohl die Häufigkeit als auch die Dauer der Nutzung digitaler Technologien zugenommen hat. Das gilt im Unterricht, aber auch für das Lernen zu Hause. Man kann also sagen, dass die Verwendung dieser Geräte und Technologien für das Lehren und das Lernen in den letzten Jahren etwas alltäglicher und selbstverständlicher geworden sind. Dies liegt auch daran, dass viele Schulen ihre Ausstattung seit Jahren kontinuierlich verbessern. Gleichzeitig werden die Unterschiede zwischen den Schulen grösser. Während beispielsweise etwa ein Viertel der Schulen auf Sekundarstufe I in den letzten Jahren eine 1:1-Ausstattung aufgebaut hat, verfügt ein weiteres Viertel noch immer über denselben Standard wie vor zehn Jahren.
Sie schreiben, dass rund 20 % der Schülerinnen und Schüler über alle Schulstufen hinweg in der Schweiz im Unterricht keine digitalen Endgeräte nutzen (Stand 2020). Das erstaunt, wird doch in der Schweiz oft die Praxistauglichkeit des Bildungswesens betont.
Der Wert stammt aus dem Staff Paper «Monitoring der Digitalisierung der Bildung aus Sicht der Schülerinnen und Schüler» der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung SKBF. Die Erhebung zeigt, dass 50–75 % aller Schülerinnen und Schüler die Geräte nicht öfter als einmal die Woche einsetzen. Das heisst, dass man noch nicht generell von einer grossen Nutzungsintensität von digitalen Lehr- und Lernmitteln in den Schulen der Schweiz sprechen kann.
Mir scheint es allerdings gewagt, dieses Ergebnis als fehlende Praxistauglichkeit des Bildungswesens zu deuten. Unter anderem schon deshalb, weil häufige Nutzung und sinnvolle Nutzung nicht zwingend dasselbe sind. Diese Geräte nicht zu nutzen ist sicher besser, als sie in einer Weise einzusetzen, die dem analogen Unterricht unterlegen ist. Viel interessanter wäre daher zu fragen, warum diese Geräte nicht genutzt werden. Und ob es vielleicht Möglichkeiten gäbe, Lehrpersonen dabei zu unterstützen, digitale Endgeräte sinnvoll in ihren Unterricht zu integrieren.
Der Vertiefungsbericht stellt fest, dass es fast unmöglich ist, den Digitalisierungsfortschritt und die Auswirkungen der Digitalisierung in der Schweiz vertieft zu analysieren, weil nur wenige systematische Datenerhebungen gemacht werden. Inwiefern ist das ein Problem? Und mit welchen zusätzlichen Datenerhebungen könnte dieser Missstand behoben werden?
Die fehlenden Daten stellen uns im Grunde vor zwei zentrale Probleme: Zum einen können wir nur sehr begrenzt beschreiben, was im Bildungsraum Schweiz in Bezug auf die Digitalisierung wirklich passiert. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Wir haben keine Vorstellung davon, wie die Ausstattung von Primarschulen mit Computern, Laptops oder Tablets aussieht. Wir können daher beispielsweise nicht sagen, ob alle Primarschulkinder ähnliche Bedingungen vorfinden, um erste begleitete Schritte im digitalen Raum machen zu können.
Zum anderen, und das ist das grössere Problem, können wir so gut wie keine verlässlichen Aussagen dazu machen, wie sich der Gebrauch dieser Technologien auf Lernleistungen, auf nicht-kognitive Fähigkeiten wie Motivation oder auf die Gesundheit von Schülerinnen und Schülern in der Schweiz auswirkt. Auch wissen wir nicht, ob diese Auswirkungen für alle Schülerinnen und Schüler ähnlich sind oder ob es Gruppen gibt, die allenfalls besser oder schlechter auf den Einsatz dieser Technologien ansprechen. Das heisst, wir können nicht bewerten, was die zunehmende Verbreitung dieser Technologien für Auswirkungen hat und wir sind nicht in der Lage, evidenzbasierte Vorschläge für eine sinnvolle Verbesserung des Einsatzes dieser Technologien zu machen.
Im Bericht haben wir eine Reihe von Möglichkeiten zur Sammlung von Daten aufgeführt, um solchen Fragen ernsthaft nachzugehen. Ich würde es beispielsweise begrüssen, wenn man die Einführung digitaler Technologien so aufgleisen würde, dass eine experimentelle Evaluierung der Einführung möglich wird. Bei einigen Projekten wird das bereits gemacht. Liesse sich das ausweiten, wäre das eine tolle Entwicklung.
Was lässt sich zur Motivation der Schülerinnen und Schüler sagen? Wie viel «Freude» bereitet ihnen die Digitalisierung des Bildungswesens?
Es ist allgemein bekannt, dass der Einsatz digitaler Endgeräte und Lernressourcen zumindest kurzfristig die Lernmotivation, also die Freude am Lernen, steigert. Das gilt als einer der Hauptgründe dafür, dass mit diesen Technologien lernende Schülerinnen und Schüler kurzfristig deutlich grössere Lernzuwächse verzeichnen als jene, die diese Technologien nicht verwenden. Der Grund dafür ist primär, dass es überhaupt eine Änderung im Schulalltag gibt, und das dazu noch mit diesen Gadgets… Das scheint tatsächlich zu begeistern und anzuspornen. Eine andere Frage ist, wie nachhaltig dieser Effekt ist. Und wie der Begriff schon andeutet, werden zumindest die Unterschiede in den Lernleistungen im Laufe der Zeit erheblich kleiner.
Auch die Ergebnisse der schon erwähnten Studie der SKBF zeigen relativ eindeutig, dass einer grossen Mehrheit der Schülerinnen und Schüler aus der Schweiz das Lernen mit diesen Geräten Spass macht. Allerdings zeigt sich auch, dass gerade diejenigen, welche die Geräte tendenziell häufiger einsetzen, dem Lernen mit diesen Geräten gegenüber deutlich kritischer eingestellt sind. Sie berichten häufiger von Problemen. Zum Beispiel, dass sie schneller abgelenkt sind, wenn sie mit digitalen Geräten lernen.
Die von Ihnen verwendete Literatur zeigt auch, dass digitale Kompetenzen heute oft ausserhalb der Schule erworben werden. Sprich: Wer zu Hause gut am Computer «ausgebildet» wird, nutzt diesen auch in der Schule effizient. Bezüglich der Chancengerechtigkeit ist das eine heikle Entwicklung.
Das ist so. Und es ist auch nicht komplett überraschend, dass das familiäre Umfeld eine wichtige Rolle für den Lernerfolg und den Erwerb von Kompetenzen spielt. Das ist auch für andere, klassisch schulische Kompetenzen wie Mathematik oder Leseverstehen sehr gut dokumentiert. Eltern, die sich für den schulischen Werdegang ihres Kindes interessieren und es in seinem Lernen unterstützen, sind grundsätzlich wichtig für den schulischen Erfolg ihres Kindes.
Was an diesen Ergebnissen eher überrascht: Der Zusammenhang zwischen der schulischen Vermittlung digitaler Kompetenzen und den digitalen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern ist häufig nicht nachweisbar. Zum Beispiel zeigen Ergebnisse der ICILS-Erhebung von 2018, dass Schülerinnen und Schüler, die an ihrer Schule den Umgang mit Fake News gelernt haben, oft nicht besser darin sind, diese zu erkennen, als Schülerinnen und Schüler ohne entsprechende Kenntnisse. Und wenn es um «Computational Thinking» geht, z. B. darum, Probleme so zu strukturieren, dass sie von einem Computer gelöst werden können, schneiden Schülerinnen und Schüler, die behaupten, sie hätten das in der Schule gelernt, tendenziell sogar schlechter ab, als Schülerinnen und Schüler, die behaupten, sie hätten davon in der Schule noch nichts gehört. Woran das konkret liegt, wird aktuell breit diskutiert und ist noch nicht geklärt. Das Ergebnis sollte aber ein klares Warnsignal dafür sein, dass die Vermittlung solcher Fähigkeiten vielleicht komplexer ist, als zunächst angenommen.
Der Lehrplan 21 enthält seit einiger Zeit «Medien und Informatik», in der Romandie wurde kürzlich der Plan d’Études numériques gutgeheissen. Inwieweit machen sich diese Lehrplanvorgaben bereits bemerkbar? Inwieweit stärken sie die Digitalisierungsbemühungen im Bildungswesen?
Das lässt sich aktuell noch nicht beurteilen. Ein Grossteil der im Bericht verwendeten Daten und Informationen stammt aus einer Zeit, in der weder das Modul «Medien und Informatik» noch der Plan d’Études numérique implementiert waren. Es wird spannend zu sehen, ob und wie sich diese beiden Ansätze bemerkbar machen. Wir beobachten, dass es zumindest bis letztes Jahr augenfällige sprachregionale Unterschiede in der Verwendung digitaler Geräte in den Schulen gab. Schülerinnen und Schüler aus der Deutschschweiz nutzen diese Geräte deutlich häufiger im Unterricht als Schülerinnen und Schüler in der lateinischen Schweiz. Warum das so ist, lässt sich nicht abschliessend sagen. Es spricht allerdings nicht viel dafür, dass das ein Ergebnis der Einführung des Lehrplans 21 ist. Wir können diese sprachregionalen Unterschiede auch in der Zeit vor seiner Einführung beobachten.
Der Bericht empfiehlt, insbesondere die digitalen Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler erwerben sollen, genauer zu definieren. Wie könnte ein solches Kompetenzraster aussehen und welcher Prozess kann zu einem solchen führen?
Ein solches Raster definiert potenziell relevante Fähigkeiten, damit Schülerinnen und Schüler am Ende der Schulzeit auf eine Welt vorbereitet sind, in der digitale Technologien eine immer grössere Rolle spielen. Das bedeutet: Schülerinnen und Schüler müssen technische Fähigkeiten besitzen, aber eben auch eine Vorstellung davon haben, welche Konsequenzen der Einsatz von Geräten oder das Bereitstellen und Verwenden von Inhalten hat. Solche Kompetenzraster gibt es in der Zwischenzeit relativ viele. Auch in der Schweiz. Das Modul «Medien und Informatik» des Lehrplans 21 oder das Element «Education numérique» des Plan d’Études numérique bauen zum Beispiel auf Vorstellungen davon auf, was Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf digitale Technologien und Inhalte können und wissen sollten. Und auch in den höheren Schulstufen werden in immer schnellerer Abfolge neue Kompetenzraster entwickelt. Unsere Sorge ist eher, dass die Passung und Vergleichbarkeit zwischen diesen vielen Rastern irgendwann nicht mehr gegeben ist. Dass wir also bei den digitalen Kompetenzen dort ankommen, wo wir vor dem HarmoS‑Konkordat bei den anderen schulischen Kompetenzen standen. Entsprechend wäre hier wohl ein schweizweiter, stufenübergreifender Effort nötig, um zu einem gemeinsamen Verständnis – einem Minimalkonsens – darüber zu kommen, was wir als Gesellschaft glauben, dass unsere Kinder in Bezug auf digitale Technologien können und wissen sollten.