Autor: Wendelin Brühwiler, Beauftragter Digitalisierung der EDK
Die digitale Transformation geht einerseits mit systemischen Veränderungen einher. Sie wirkt andererseits im Kleinen und verändert die Handlungsmöglichkeiten. Wie lässt sich Bildung in diesem Spannungsfeld gestalten? Der Blogbeitrag von Wendelin Brühwiler.
Wer sich den Herausforderungen der digitalen Transformation in der Bildung stellen möchte, kommt nicht daran vorbei, von zwei Seiten her zu denken: aus systemischer Sicht der Infrastrukturen, des Rechtsrahmens usw. und aus praktischer Perspektive der Unterrichtsgestaltung, der Lehrmittel oder der Prüfungsorganisation. Dann erst lassen sich die wesentlichen Fragen angehen: Worin liegen die Effizienzgewinne (wenn überhaupt), wer profitiert, mit welchen nicht-intendierten Effekten ist zu rechnen – und immer wieder: wer entscheidet? Die Schülerinnen und Schüler, die Lehrperson, die Schulleitung, die Schulträger, die Bildungsverwaltung, die Technologie- und Serviceanbieter oder doch die Algorithmen?
Mit diesen Fragen haben sich Bildungsexperten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz Ende Mai in Luzern am DACH-Seminar befasst. Dabei ist nicht alles neu. Der IT-Kompetenz an Schulen und die Weiterbildung des pädagogischen Personals sind über den Einzug vom Personal Computer, Internet und Social Media hinweg schon länger zentrale Themen im Schulalltag. So ist es auch keine Überraschung, dass diese Themen angesichts der Verbreitung von Machine Learning bzw. Künstlicher Intelligenz wieder auftauchen. Was allerdings neu sein dürfte: Der Möglichkeitsraum und die darin eingelassenen Interessen werden unübersichtlicher. So wird es nicht leichter, Entwicklungen politisch zu diskutieren und rechtlich zu regeln.
Wie Behörden in diesem Kontext handlungsfähig bleiben können, skizzierte Martin Bauer anhand des 8-Punkte-Plans für den digitalen Unterricht des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Österreich (BMBWF). Zum Umgang mit Künstlicher Intelligenz konnten etwa Empfehlungen zentral erarbeitet und verbreitet werden. Dabei verfolgt das BMBWF keine Kultur des Verbots, sondern möchte in erster Linie Effekte aufzeigen. Mit stark nachgefragten Onlinekursen hat man wiederum neue Wege gefunden, die Kompetenzentwicklung und Weiterbildung zu adressieren.
Die Ausgangslage in Deutschland legte Rainer Ballnuß anhand der Digitalisierungsstrategie der Kultusministerkonferenz (KMK) und des DigitalPaktSchule dar. Die KMK hat digitale Kompetenzen bereits 2016 definiert, worauf die Lehrpläne angepasst werden konnten. Ausserdem sind über den DigitalPakt Mittel bereitgestellt worden, die in den Ländern und in länderübergreifenden Projekten eingesetzt werden. So ist bspw. im Bundesland Bremen inzwischen ein Lernmanagement-System eingeführt, das quasi flächendecken genutzt wird.
Ein wesentliches Element auf Seiten der Infrastruktur sind die Identitätsmanagement-Systeme. Ohne sie bleibt die Technik in der Anwendung hinter den Möglichkeiten zurück. Zugänge und Berechtigungen können nicht gewährt werden, das Lernprogramm startet nicht, der Kurs wird nicht angerechnet, das Zeugnis wird falsch ausgestellt. Die Identitätsthematik ist deshalb so zentral, weil sich hier die praktische und systemische Ebene verschränken, die Handlungsfähigkeit der Einzelnen und die behördlichen Verantwortungen eng verzahnen. In der Umsetzung sind verschiedene, auf Zuständigkeiten und politische Präferenzen abgestimmte Wege möglich. In der Schweiz wurde mit Edulog der Weg einer «Föderation» lokaler Identitätsdienste gewählt, in Österreich kommt mit der Nutzung der ID Austria eine Lösung im Rahmen einer allgemeinen Verwaltungsidentität zum Zug.
Es dürfte allerdings auch Vorteile bieten, wenn den Einzelnen weiterhin verschiedene Identitäten zur Verfügung stehen. Wie für verschiedene Adressaten verschiedene E-Mailadressen genutzt werden, können für unterschiedliche «digitale Lebenswelten» verschiedene Identitätsdienste verwendet werden (nota bene stammen diese derzeit überwiegend von privaten Anbietern). Man muss kein Spezialist sein, um einen Kulturwandel zu erkennen, der mit der Nutzung digitaler Technologie einhergeht. Dabei ist an die informellen Anteile sozialer Praxis zu erinnern, welche die Aushandlung von Sachverhalten möglich machen. Nicht nur in der Bildung sind diese Anteile unverzichtbar («Hat der Chatbot denn recht? Und überhaupt: Wer macht hier die Regeln?»).
Die Ansatzpunkte, das hat das DACH-Seminar 2024 gezeigt, sind über die DACH-Region hinweg vergleichbar: Es gilt, rechtliche Grundlagen zu schaffen und Infrastrukturen aufzubauen, damit die öffentliche Hand ihrer Verantwortung für die Anwendung digitaler Technologien in der Schule und der Bildungsverwaltung nachkommen kann. Ebenso gilt es, zu selbstbestimmtem Handeln zu befähigen und Raum für Experimente zu lassen. Dass vergleichbare Problemstellungen anhand verschiedener Herangehensweisen in den deutschsprachigen Ländern diskutiert werden konnten, war der grosse Gewinn der drei Tage.
Angesichts der föderalen Strukturen in der Schweiz ist man hin- und hergerissen zwischen den Vorteilen, die eine lokale Flexibilität bietet, und den Chancen, die ein koordiniertes Vorgehen eröffnet. Dabei zeichnet sich ab, dass der Entscheidungsdruck angesichts bildungsfremder Interessen, die auch den Bildungsraum prägen, zunimmt. Die Experten und Entscheidungsträger werden nicht immer souverän sein. Sie werden aber nicht darum herumkommen, einen Prozess mitzugestalten, der die Bildung und die Gesellschaft mit oder ohne ihr Zutun verändert.